Ein mentaler Ausflug ins Opfer-Dasein

Die Welt, in der du lebst, ist immer eine Illusion. Es können zehn Menschen in einem Zug sitzen und jeder erlebt diese Reise anders. Das ist mir in den letzten Tagen während einer Diskussion in Emmyxs & Elkes Blog wieder einmal bewusst geworden. Ja, manchmal springt einen ein Thema an. Ich hatte in den letzten Wochen schon mehrmals den Impuls, darüber schreiben zu wollen, aber es brauchte diesen Funken.

In der Theorie weiß ich immer genau, wie alles funktioniert. Aber in der Praxis war ich von April bis Juni in einer sooo großen Opfer-Falle, dass es schon fast peinlich ist.

Aber der Reihe nach: Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich mich als Opfer der Umstände fühle. Wer meine Blog schon länger liest, erinnert sich vielleicht an die schwarzen Bibliotheksregale und die damit verbundene Abmahnung. Der böse, böse Architekt und der noch bösere, abgrundtief schlechte Chef, der dem Architekten Recht gibt, weil der ist ja Gott, und mir eine Abmahnung erteilt. Opferfalle vom Feinsten. Aber aus diesem Sumpf konnte ich mich selbst rausziehen. Irgendwann kurz vor dem Umzug verkündete ich meinen ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen: „Die Bibliothek können wir jetzt nicht mehr umbauen, jedenfalls vorerst nicht. Aber es kommt auf den Inhalt an, auf die Bücher und Medien, die in den schwarzen Regalen stehen. Die Leute wollen immer das Beste, was auf dem Buchmarkt zu finden ist, egal ob die Regale schwarz sind oder nicht. In der alten Bibliothek war auch nicht alles schön, aber die Leser waren da, weil wir ein tolles Angebot hatten und immer gut beraten haben. Lasst uns also mit den allerschönsten Medien, die es gibt, weiter machen und sehen wir den Umzug als ein großes Abenteuer!“ Es wurde ein mehr als großes Abenteuer 🙂 und es nahm uns alle so in Anspruch, dass wir die blöden Regale erstmal ignorierten.

Die Leser kamen weiterhin und lobten wie immer das tolle Angebot der Bibliothek. Ich ließ mir keinen Maulkorb verpassen und erzählte vielen Besuchern, wie ich mir diese Bibliothek eigentlich erträumt hatte und ich erzählte auch, so kurz vor der Kommunalwahl erst recht 🙂  von der Abmahnung. Viele gaben mir Recht und waren besorgt: „Halten Sie bloß durch und lassen Sie sich nicht fertig machen!“ Als eine Freundin aus meinem Heimatort im Krankenhaus das Zimmer mit jemandem aus meinem Arbeitsort teilte, kam das Gespräch auch auf die Bibliothek, wobei meine Freundin nicht verriet, dass sie mich kennt. Folgendes wurde ihr erzählt: „Die neue Bibliothek ist viel zu dunkel und die Regale sind zu mächtig, das hat der Architekt versaut. Aber da ist eine tolle Bibliothekarin, die macht ganz viel mit Kindern!“ 🙂

Ja, genau, auf den Inhalt kommt es an, und der hat in den ganzen Jahren bei mir immer gestimmt!!! 🙂

Während wir mit Schwung den Umzug meisterten, bahnte sich bereits die nächste Katastrophe an. Mir sollte eine Vorgesetzte vor die Nase gesetzt werden. An meinem Arbeitsort gibt es ein Burgmuseum. Dessen wissenschaftliche Leiterin, eine Germanistin, hatte bislang einen Honorarvertrag und dozierte hauptamtlich in einer polnischen Universität. Da sie (naja, eigentlich nicht nur sie allein) das Drehbuch geschrieben hatte für die Ausstellung, die sich über der neuen Bibliothek befindet, war klar, dass sie auch für diese Ausstellung nebenamtlich zuständig sein würde. Doch es kam anders. Gerade 60 geworden, hatte sie bemerkt, dass ihr Jahre der versicherungspflichtigen Beschäftigung fehlen, um in Deutschland eine Rente beziehen zu können. Daraufhin bettelte sie den Bürgermeister an, er möge sie doch bitte einstellen. Der Bürgermeister war schon immer ihr größter Fan und so drehte er es mit einer fingierten Ausschreibung so hin, dass diese Frau tatsächlich hauptamtlich eingestellt wurde, und zwar „als Leiterin des Burgmuseums, der neuen Ausstellung, der Bibliothek, des Archivs und der Touristinfo“. Das war ein ziemlicher Brocken für mich, denn ich hatte bisher diese Frau als intrigant, geltungsbedürftig, sich mit den Erfolgen anderer schmückend und überhaupt nicht in ihrer Mitte bleibend erlebt. Da ich ein authentisches Wesen bin und bleiben möchte, hatte ich dieser Frau im Vorfeld erklärt, was ich davon halte, nach fast elf Jahren erfolgreicher Arbeit geleitet zu werden. Sie meinte, ich solle mir keine Sorgen machen, an ihrer Uni habe sie mit der österreichischen Bibliothek zusammengearbeitet, daher wisse sie, wie eine Bibliothek funktioniert. Das machte mich auch nicht glücklicher. Ich fühlte mich als Opfer des bösen Chefs und der intriganten neuen Vorgesetzten. Ein Sch … gefühl war das!!!

Nachdem sie am ersten Mai eingestellt wurde, passierte erstmal – gornix. Sie ließ sich kaum mal blicken. Hintergrund war dieser: Während jeder Mitarbeiter der Stadtverwaltung seine Arbeitszeit registrieren lassen muss, konnte sie kommen und gehen, wann sie wollte. Sie hatte dem Chef erklärt, sie arbeite geistig und das sei an keine Uhrzeit gebunden. Gerade gibt es ein Gerichtsurteil, welches besagt, dass jeder Arbeitnehmer in Deutschland seine Arbeitzeit erfassen muss. Jeder, bis auf eine … Alle Entscheidungen traf ich weiter allein oder in Absprache mit dem Hauptamtsleiter. So langsam entspannte ich mich. Erst Ende Mai gab es eine offizielle Amtseinführung mit allen Mitarbeitern, die ihr unterstellt worden waren. Der Bürgermeister hielt eine ausführliche Rede darüber, wie rechtens doch das Bewerbungsverfahren gelaufen sei. Sie sei die geeignetste Bewerberin eines langen Auswahlverfahrens gewesen, betonte er sehr. Aha. Und überhaupt sei eine Leitung nötig geworden, denn durch den neuen Zeltplatz spiele die Stadt jetzt in einer anderen touristischen Liga mit, da brauche es Leute, die Konzepte für Museum, Ausstellung, Touristinfo und Öffentlichkeitsarbeit entwickeln. Die Burgfrauen und ich schauten uns an: Aha. So begründet er das also. Tolles Märchen, was er da erzählt! Der Chef redete noch etwas darüber, dass wir unser neues Haus bestmöglichst verkaufen sollen und nicht schlechtmachen sollen. (kleiner Blick auf mich). In einer Kleinstadt redet man natürlich viel und so blieb es auch nicht vor dem Chef verborgen, dass ich, gerade vor der Kommunalwahl, allen Leuten erzählte, wie ich mit eigentlich die Bibliothek vorgestellt hatte. „Sie müssen rüberbringen, dass Sie für Ihr Haus brennen“, sagte man uns. Ein Maulkorb also. Klar. Stellt euch vor Leute, euer Büro wird schwarz angestrichen und man sagt euch, dass ihr es in der Öffentlichkeit loben sollt!!! Lange hielt ich diese Show nicht durch. Zum Glück war auf dem Vorplatz des neuen Hauses gerade eine Gruppe angekommen. Die war zwar erst für später angekündigt, aber für mich kam sie gerade rechtzeitig. Mit den Worten „Wer für sein Haus brennt, lässt keine Leute vor der Tür stehen!“, ging ich aus dem Raum und die Show war für mich beendet.

Am Tag nach der offiziellen Amtseinführung stand die neue Chefin tatsächlich in der Tür und leitete: „Was macht dieser Frosch da an der Wand? (ein Monats-Kalenderbild) Der passt nicht zu unserem Literaturhaus! Ich möchte, dass der verschwindet! Und überhaupt, wieso sieht das hier so vollgemöhlt aus? Überall Bücher hinter der Theke, muss das denn sein?“ – „Äh, das ist eine Bibliothek und das sollen die Leute auch sehen?!“ – „Das interessiert mich nicht. Lassen Sie sich etwas einfallen, ich will, dass die Bücher da wegkommen!!!“ Oh je, das kann ja heiter werden. Außerdem hielt sie mir einen Vortrag über Loyalität und über mein krankhaftes Geltungsbedürfnis und überhaupt mein unmögliches Verhalten.

Von da an war ich unglücklich. Alle in der Familie und im Freundeskreis nahmen Anteil und jeder erkundigte sich mitfühlend nach den neuesten Ideen der neuen Vorgesetzten. Das bestärkte noch mein Opfer-Dasein, jeden Tag aufs Neue.

Aber wozu eigentlich? Sie war ja nach diesem kurzen Anfall von „Leiten wollen“ wieder kaum da! Und dennoch war sie ständig da – in mir, in meinen Gedanken. Ich war es, die mein eigenes Opfer-Bewusstsein täglich nährte, nicht sie. Irre, oder?

Sie kam bis jetzt, innerhalb eines Vierteljahres, nur zweimal unangekündigt für zwei Stunden in die Bibliothek, setzte sich auf den Arbeitsplatz gegenüber der Theke und beobachtete mich bei meiner Arbeit genau. Sie hörte genau zu, wie ich die Leser beriet. Ich hatte gerade zufälligerweise mein schönstes, neu erworbenes Sommerkleid an und stolzierte selbstbewusst und sie ignorierend an ihr vorbei und plauderte wie gewohnt mit den Lesern. Nach dieser Aktion war sie wieder für Wochen verschwunden. Irgendwann traf ich mal die Burgfrauen und bemitleidete sie wegen der ständigen Präsenz der Chefin. „Wieso, bei uns ist sie nicht. Wir dachten, sie ist bei dir die ganze Zeit und haben dich bedauert?“ Ist ja cool. So ein Job könnte mir auch gefallen. Die dicke Kohle für 20 Wochenstunden in TvöD/K 11 kassieren und fast nie da sein. „Aber sie arbeitet ja geistig!“, meinten wir und lachten. So böse sind wir ja alle nicht darüber, dass sie nie auftaucht.

So nach und nach kam ich wieder in meine alte Form, ließ den Opfer-Gedanken los und stürzte mich voller Freude in die Vorbereitung des Sommerleseclubs. Einige Regalbretter waren für die neue Bibliothek aus Versehen in Weiß geliefert worden. Ich holte sie aus dem Lager und bastelte inmitten der schwarzen Kinderbibliothek-Wandregale ein weißes, schönes FerienLeseLust-Regal. Lektorat und Einarbeitung der neuen Bücher, Einführungen mit Schulklassen – alles lief freudig und mit Hilfe meiner Ehrenamtlerinnen wie gewohnt. Trotz großer Hitze und rückläufigem Bundes- und Landestrend wieder Rekord-Teilnehmerzahl. Wir brauchten garnicht so viel werben wie in den letzten Jahren. Das Projekt hatte sich schon unter den Kindern und Eltern herumgesprochen, sie kamen alle wie von selbst und brachten auch noch Freunde, Geschwister und Verwandte mit. Herrlich!!! Ich war glücklich!!! Spätestens da hatte sich der letzte Hauch von Opfer-Bewusstsein verdünnisiert. Irgendwann rief der Hauptamtsleiter an: „Es ist mal wieder Zeit für unser Monatsgespräch!“ – „Sie wollen weiterhin mit mir die Monatsgespräche führen?“ – „Ja warum nicht, wir haben doch immer gut zusammen gearbeitet!“ Wir besprachen wie immer die Dienst- und Urlaubspläne (was eigentlich in der Tätigkeitsliste der neuen Chefin enthalten ist) und wetteten wie immer augenzwinkernd, wie denn diesmal die Besucherzahlen für die neue Ausstellung sein würden.

Kürzlich rief jemand vom NDR an und fragte, ob ich die Bibliothek in der Reihe „Sommer im Bücherregal“ vorstellen würde. Ich mailte die Bitte an den Bürgermeister und die mir vor die Nase gesetzte Person. Von letzterer keine Antwort, sie war mal wieder gerade abwesend. Ersterer schrieb sinngemäß folgendes: „Wir können jede Werbung brauchen. Aber bitte nur positive Nachrichten, wenn Sie verstehen, was ich meine!“ Selbstbewusst mailte ich zurück: „Über die inhaltliche Arbeit in der Bibliothek gab es in den letzten elf Jahren ausschließlich positive Nachrichten! und der gute Start des Sommerleseclubs ist noch eine gute Nachricht mehr!“ 🙂 Das Interview machte Spaß und war locker. Nach der kurzen Vorstellung der Bibliothek sollte ich ein Buch empfehlen, wenn möglich ein Sachbuch. Meine Empfehlung: „Die stille Revolution“ von Bodo Janssen. 🙂

Allen Opfern von intriganten Chefs und Chefinnen rate ich: Mache deine Arbeit weiter mit Liebe und konzentriere dich auf das, was du am besten kannst, was dein Herzens-Projekt innerhalb dieser Arbeit ist. Wenn sie dir erzählen, wie schlecht, wie geltungsbedürftig, wie undankbar du bist – lass es an dir abprallen. Sie benutzen dich als Spiegel, um sich selbst darin zu sehen und beschreiben nur sich selbst. Bleibe authentisch und lasse dich nicht verbiegen. Versuche, die Opfer-Haltung nicht zu nähren. Alles das, worauf du deinen Fokus richtest, wächst und gedeiht und wird riesengroß, bis es dich zu verschlingen droht. Bedanke dich (in Gedanken) bei deinem Chef, bei deiner Chefin für diese Lebens-Erfahrung und schau, was du aus dieser Situation für dich lernen kannst. „Ich kann gar nicht erwarten, zu sehen, wie viel Gutes aus dieser Situation entstehen wird!“